Über ein lächelndes Mädchen, eine seltene Krankheit und ein Wunder

Unsere Neujahrsspende 2023 vergeben wir an die Stiftung Kifa Schweiz, die Kinder mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen und ihre Familien unterstützt. Um den Alltag einer betroffenen Familie besser zu verstehen und um zu sehen, wie die Stiftung helfen kann, spreche ich mit Nicole Trüter. Sie ist die Mutter von Sarah, einem Mädchen, das unter einem seltenen Gendefekt leidet.
Sarah ist 16 Jahre alt, mag Musik und besucht gerne Konzerte. Sarah liebt das Reiten, mag Tiere; und wenn sie etwas möchte oder eben nicht, dann kann sie ganz schön stur sein. So weit, so normal. Doch Sarah leidet unter einem sehr seltenen Gendefekt, genannt GABRB2. Ich besuche Sarahs Mutter, Nicole Trüter, bei ihr zuhause in Neuenhof im Aargau. Die Familie wohnt in einem grossen Wohnblock – und von all den Türen, an denen ich im Treppenhaus vorbeigehe, ist ihre definitiv die mit der schönsten Weihnachtsdekoration. Nicole Trüter bietet mir Kaffee an, den ich gerne annehme. Für das Gespräch setzen wir uns an den Esstisch, auf dem unzählige Keksdosen stehen. «Ich habe gerade Guetzli gebacken», lacht Nicole Trüter. Ich fühle mich gleich wohl.Ein sehr seltener GendefektGABRB2 – von dieser Krankheit hatte ich vor dem Besuch bei Nicole Trüter nie auch nur gehört. Und das erstaunt wenig: Ein Defekt des Gens GABRB2 ist so selten, dass er bei Sarah erst diagnostiziert werden konnte, als das Mädchen fast zehn Jahre alt war. Nicole Trüter erklärt mir die Krankheit in einfachen Worten: «Es hat etwas mit dem Stoffwechsel, Proteinen und Eiweiss zu tun. Zudem kann Sarah den Blutzucker nicht ins Gehirn transportieren.» Als ich Google befrage, bestätigt sich mir die Seltenheit des Gendefekts: Ich finde keine einzige deutsche Seite, die mir in verständlichen Worten die Symptome der Krankheit erklärt hätte…
Nicole Trüter, Mutter von Sarah
Nicole Trüter, Textilverkäuferin und Mutter von Sarah
Weihnachtliche Haustür der Familie Trüter
Hier wohnt Sarah mit ihren Eltern
Ein Baby wie jedes andere«Die ersten neun Monate hat sich Sarah normal entwickelt», erzählt Nicole Trüter. «In meinem Rückbildungskurs konnte sie sich von allen Kindern schon am besten selber umdrehen.» Doch dann habe Sarah nicht wie andere Babys gelernt zu sitzen und zu krabbeln, habe einfach keine Fortschritte mehr gemacht. Das damals durchgeführte MRI war unauffällig, das darauffolgende EEG zeigte, dass Sarahs Hirnströme für ihr Alter deutlich zu langsam flossen. Warum das so war, konnte jedoch nicht herausgefunden werden. Sarah bekam Physiotherapie und Heilpädagogische Früherziehung und schaffte es so, mit 14 Monaten sitzen und mit 20 Monaten stehen zu lernen.Symptome ohne Diagnose und ein kleines WunderAls Sarah zwei Jahre alt war – sie sprach noch immer nicht und konnte nicht alleine gehen – passierte etwas Unerklärliches: «Wir waren im Schwarzwald in den Ferien mit unserem Wohnwagen», erinnert sich Nicole Trüter. «Schon vorher war uns aufgefallen, dass Sarah vielleicht nicht so gut sehen könnte. Wieder zuhause testeten wir gemeinsam mit ihrer Früherzieherin mit einem Büechli Sarahs Sehvermögen – und merkten: Sarah sah überhaupt nichts mehr. Wir bekamen Panik und fuhren sofort mit ihr ins Spital.»
Nicole Trüter erzählt mir, wie sie im Kantonsspital Baden abgewiesen wurden, sie sollten am Montag zu ihrem Kinderarzt gehen; wie sie in der Eile ihr Portemonnaie vergessen hatte und deshalb die Rechnung ausgedruckt bekam; wie sie ins Kinderspital Aarau fuhren und noch in der Nacht ein Augenarzt Sarah untersuchte. Sarahs Mutter scheint sich an jedes Detail zu erinnern. Und mir läuft es kalt den Rücken herunter beim Gedanken daran, was sie und ihr Mann in dieser Nacht durchgemacht haben müssen. Trotz zahlreicher Untersuchungen wurde der Grund für Sarahs plötzliche Blindheit nicht herausgefunden und die Familie musste mit einem Kind nachhause gehen, das noch immer nichts sah.Einige Wochen später bekam Sarah dann Muskelzuckungen, genannt Myoklonie. Erneuter Spitalbesuch, erneute Untersuchungen. Diesmal lautete die Diagnose «Untypische Epilepsie». Ursache unbekannt. Doch seither bekommt Sarah Epilepsie-Medikamente. Und dann, etwa ein halbes Jahr nach Sarahs Erblinden, passierte in dieser ansonsten düsteren Zeit plötzlich ein kleines Wunder: Eines Abends konnte Sarah von einem Moment zum nächsten plötzlich wieder sehen!

« Sarah zeigt uns, was sie möchte. Sie nimmt uns einfach an die Hand und führt uns. »

Eine Diät wirkt WunderIn den drauffolgenden Jahren musste Sarah immer wieder ins Spital, mal ging es ihr besser, ein andermal schlechter. Erst als das Mädchen fünf Jahre alt war, wurde etwas Grundlegendes herausgefunden: Sarahs Körper kann keinen Blutzucker ins Gehirn transportieren. Dieses wurde somit nie genügend mit Energie versorgt und konnte sich nicht entwickeln. Basierend auf dieser Erkenntnis konnte Sarahs Ernährung umgestellt werden, sodass mehr Energie in ihr Gehirn gelangen kann – und das bewirkte viel: Sarah blühte auf, lernte selber zu gehen und machte Fortschritte. Für die Entwicklung des Sprachzentrums war es im Alter von fünf Jahren jedoch zu spät, weshalb das Mädchen nie sprechen lernte. «Sarah versteht mich», erzählt Nicole Trüter. «Sie kann sich einfach nicht gut ausdrücken. Trotzdem zeigt sie, was sie möchte. Sie nimmt mich oder ihre Spitex-Frauen einfach an die Hand und führt uns.»Die Ursache der Störung der Energieversorgung von Sarahs Gehirn und ihrer unspezifischen Epilepsie blieb weiter unklar. Bis zur Diagnose – Gendefekt GABRB2 – vergingen noch fast fünf Jahre. «Der Tag, an dem die Neurologin mich anrief, war der 10. Januar. Der Geburtstag meiner Mutter», erinnert sich Nicole Trüter. Sarah war fast zehn Jahre alt.Wie geht es Sarah heute?
Wie die ketogene Diät Sarahs Leben veränderte

Im Rahmen einer ketogenen Diät besteht Sarahs Nahrung zu drei Teilen aus Fett und nur zu einem Teil aus Kohlenhydraten und Eiweiss. Bei dieser Ernährungsform wandelt der Körper das Fett in Ketone um, um daraus Energie zu gewinnen. Sarahs Körper kann Blutzucker nicht ins Gehirn transportieren, da die Hirn-Blutschranke nicht funktioniert. Ketone finden jedoch den Weg ins Gehirn des Mädchens – und können dieses somit mit Energie versorgen.

Sarah ist heute 16 Jahre alt und besucht eine heilpädagogische Schule nahe ihres Wohnorts. Nicole Trüter zeigt mir Fotos ihrer Tochter. Sie zeigen ein hübsches Mädchen mit braunen Haaren und einem verträumten Lächeln. Es gibt Fotos von Sarah beim Reiten, an Konzerten. Aber auch viele Fotos im Krankenhaus oder Rehazentrum. Die 16-Jährige sieht sehr jung aus für ihr Alter. Das sei, weil die ketogene Diät das Wachstum verzögere, erfahre ich. Fast mehr fällt mir aber auf, dass Sarah auf fast allen Fotos lächelt. «Ja, Sarah ist ein sehr zufriedenes Mädchen», sagt Nicole Trüter. «Sie ist ein Bewegungsmensch. Sie möchte immer laufen und kriechen, liegen will sie nur zum Schlafen. Und sie ist sehr musikalisch.» Ich bin beeindruckt von diesem Teenager, den ich nur von Fotos kenne. Alleine die Schilderung von Sarahs Krankengeschichte hat mehr als eine halbe Stunde in Anspruch genommen – und trotzdem lächelt das Mädchen, sieht zufrieden aus.
Sarah Trüter am Reiten
Sarah reitet gerne
Die Stiftung Kifa unterstütztNicole Trüter arbeitet dienstags und donnerstags als Textilverkäuferin. An diesen Tagen kommt die Kinderspitex morgens und macht Sarah bereit für die Schule. «Ich merke, dass ich entspannter bin, seit die Kifa uns unterstützt», erzählt Sarahs Mutter. «Früher machte ich am Morgen Sarah bereit, brachte sie zum Taxi und musste mich danach im Stress für die Arbeit umziehen. Jetzt habe ich genug Zeit am Morgen – und Sarah ist gut versorgt.» Die Kinderspitex der Stiftung Kifa Schweiz unterstützt die Familie Trüter wöchentlich etwa 18 Stunden. Gruppenleiterin Claudia macht die Einsatzpläne jeweils gemeinsam mit der Familie. Nicole Trüters Arbeitstage sind fix, weitere Stunden werden flexibel angepasst. «Heute Abend zum Beispiel kommt die Spitex, damit mein Mann und ich am Abend an ein Konzert gehen können», freut sich Nicole Trüter.

« Unsere Spitex-Frauen gehören zur Familie. »

Sarah liebt ihre Spitex-FrauenDie Stiftung Kifa Schweiz legt grossen Wert darauf, für jedes Kind konstante Pflegeteams zu haben. So ist es auch bei Familie Trüter. Sarahs Pflegeteam besteht aus vier Frauen: Regina, Tina, Claudia und Diana. Für Nicole Trüter gehören diese zur Familie und das schätzt sie sehr. «Sie kommen zu uns nachhause. Sie wissen, was wo ist, sie nutzen unsere Küche. Ich merke auch, dass Sarah sie sehr gerne hat und gut kennt. Da gibt sie auch mal ihren Tarif durch, genau wie bei meinem Mann und mir», lacht die Textilverkäuferin. Und auch sie selber habe heute grosses Vertrauen in Sarahs Pflegeteam. Das habe schon etwas Zeit gebraucht, sagt sie. Anfangs habe sie das Pflegeteam schon bei der Arbeit beobachtet… «Immerhin kann Sarah ja nicht sprechen und sagen, was sie möchte», erklärt sie. Ein weiterer Punkt, den Nicole Trüter an der Stiftung Kifa schätzt: «Sarahs Spitex-Frauen erbringen nicht nur Pflegeleistungen, sie spielen manchmal auch einfach mit Sarah. Sie gehen auf sie ein, sitzen mit ihr auf dem Boden zum Spielen, machen Musik oder tanzen mit ihr durchs Zimmer.»
Das Kifa Ferienlager, eine besondere WocheIm Rahmen der Kifa Ferienwoche durfte Sarah schon mehrmals mit einer ihrer «Spitex-Frauen», wie die Familie die Pflegefachfrauen liebevoll nennt, eine Woche in ein Ferienlager fahren. Sie freue sich immer sehr darauf, gehe wirklich gerne hin, so Nicole Trüter. «Dieses Programm und diese Aufmerksamkeit rund um die Uhr, das findet Sarah natürlich super», lacht sie. «Sie machen aber auch tolle Sachen im Lager. Dieses Jahr waren sie zum Beispiel im Tierpark Arth-Goldau und es kamen Therapiehunde und ein Clown ins Lager.» Während die Kinder Spass haben und etwas erleben, haben ihre Eltern etwas Zeit für sich. «Wir geniessen das wirklich», sagt Nicole Trüter. «Mein Mann und ich gehen dann zusammen in ein Wellness-Hotel und entspannen einfach mal. Man glaubt es kaum, aber schon vier Tage sind super, um einmal richtig herunterzukommen.»
Sarah Trüter und ein Clown
Sarah geniesst das Kifa Ferienlager

« Die Hilfe, die wir bekommen, ist für mich nicht selbstverständlich. Ich bin dankbar dafür. »

Wie man in den Wald ruft…Nicole Trüter erzählt und erzählt. Es gibt so viel über Sarahs Geschichte und den Alltag der Familie zu erzählen. Ich schiele auf die Uhr: Das Gespräch, das ich ursprünglich auf eine halbe Stunde angesetzt hatte, dauert schon über eine Stunde. Doch ich möchte weiter zuhören, die Geschichte dieser Familie beeindruckt mich. Es war und ist keine leichte Geschichte. Mehrmals bekomme ich Gänsehaut, wenn es um Sarahs dunkle Zeiten geht, in denen die Krankheit ihr das Leben unglaublich schwer machte. Und doch ist die Stimmung beim Gespräch nicht düster oder hoffnungslos, ganz im Gegenteil: Nicole Trüter ist eine aufgestellte Frau, die spannend erzählt und auch immer wieder das Positive betont. «Ich nehme diese Hilfe, die wir bekommen, nicht als selbstverständlich hin», sagt sie. «Ich backe zum Beispiel Guetzli für die Chauffeure, die Sarah täglich zur Schule fahren und Sarahs Spitex-Frauen bekommen von mir zu Weihnachten eine selbergemachte Feuerschale. Ich bin überzeugt: So wie du in den Wald rufst, so kommt es auch zurück.» Und so verlasse ich die Wohnung mit einem guten Gefühl – und mit einem Gefühl der Bewunderung für diese starke Familie, die es schafft, auch immer wieder im Regen zu tanzen.

Autor: Philipp Senn - Leiter Kommunikation

Sprache und Informationstechnik haben mich schon immer fasziniert – bei HIN kann ich beides verbinden. Als Leiter Kommunikation bei HIN und «nebenamtlicher» Referent für die HIN Academy möchte ich unseren Lesern vielschichtige Aspekte der digitalen Transformation vermitteln und ihr Bewusstsein für die damit zusammenhängenden Fragen der IT-Sicherheit schärfen.

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