«Die Digitalisierung könnte Leistungserbringer mehr Zeit mit ihren Patienten verschaffen»

Das Schweizer Gesundheitswesen schneidet in puncto Digitalisierung im internationalen Vergleich schlecht ab, das zeigt der Digital Health Report 2021/22. Was sind die Gründe dafür? Und wie liesse sich die Digitalisierung vorantreiben? HIN hat darüber gesprochen mit Prof. Dr. Alfred Angerer, Autor des Reports und Leiter Management im Gesundheitswesen an der ZHAW.
Janine: Herr Angerer, was sind die Ziele des Digital Health Reports? Das Thema Digitalisierung ist heute allgegenwärtig, als Praktiker wird man geradezu überhäuft mit Informationen dazu. Das Hauptziel des Reportes ist deshalb, Orientierung zu geben. Wir möchten den aktuellen Stand an einem Ort konsolidieren und den Praktikern so helfen, gute Entscheidungen zu treffen, gute Politik zu machen und gute Organisation zu gestalten. Der Report soll eine Basis bilden für entsprechende Handlungen. Der Report zeigt, dass die Schweizer Bevölkerung sich digitale Angebote wünscht. Aber ist sie auch schon bereit, diese zu nutzen?Genau, die Bevölkerung ist offen für die Digitalisierung im Gesundheitswesen und vertraut den Behörden und Organisationen da draussen. Eine der Lehren aus der Pandemie ist, dass man Herr und Frau Schweizer nicht schonen muss in Bezug auf digitale Angebote. Die Bereitschaft diese zu nutzen und die Kompetenzen sind grundsätzlich vorhanden. Die Leute müssen einfach die Chance haben, die Angebote auszuprobieren und zu merken, dass sie eigentlich ganz gut funktionieren und recht praktisch sind. Ein Beispiel sind Therapiesitzungen über das Internet, die während der Pandemie stark zugenommen haben. Dieser Wunsch nach Digitalisierung wird aktuell noch ungenügend bedient, auch das geht aus dem Digital Health Report hervor. Worin zeigt sich dies?
Prof. Dr. Alfred Angerer, ZHAW
Prof. Dr. Alfred Angerer ist Leiter Management im Gesundheitswesen am Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie sowie Co-Direktor des Digital Health Labs der ZHAW.
Eine Erkenntnis des Digital Health Reports ist, dass nur 20 Prozent der Daten im Gesundheitswesen überhaupt elektronisch geteilt werden können. Oder anders gesagt: 80 Prozent der Daten verschwinden irgendwo in einer Schublade eines Arztes. Tatsächlich haben wir aktuell also viel zu wenig Vernetzung unter den Akteuren, viel zu wenig Austausch und eine zu wenig ausgeprägte Nutzung vorhandener Daten. Optimal wären komplett durchgängige Ketten, in denen die Daten mit dem Patienten mitgehen würden über mehrere Akteure, zum Beispiel Hausarzt, Spital und Rehaklinik. Was dies betriff, gibt es im Schweizer Gesundheitswesen sehr viel Nachholbedarf. Die schlimmste Nachricht ist ja, dass im Gesundheitswesen oft noch das Fax verwendet wird – ein Gerät, das in den 60er Jahren erfunden wurde. Dass wir es 60 Jahre später noch immer nutzen, das spricht schon Bände.

« In der Bevölkerung sind die Kompetenzen und die Bereitschaft, digitale Angebote zu nutzen, bereits vorhanden. »

Und woran liegt es, dass sich die Digitalisierung im Schweizer Gesundheitswesen so langsam durchsetzt?Hier sind wir beim Thema Können – Dürfen – Wollen: Das «Können» ist nicht das Problem, denn es gibt inzwischen technische Lösungen, um Daten sicher zu übertragen. «Dürfen» tut man auch viel. Selbst wenn der Datenschutz immer wieder vorgeschoben wird, ist auch er kein Hinderungsgrund. Der Stolperstein liegt im «Wollen»: Warum soll ich als Leistungserbringer meine Daten austauschen? Was habe ich davon? Denn es gibt heute diesbezüglich sehr wenig Incentivierung. Der Nutzen ist halt leider nicht immer dort, wo der Aufwand entsteht. Ein weiterer Grund ist, dass die Patienten selber zu wenig wollen. Sie machen keinen Druck – und ohne Druck bewegt sich sehr wenig im Gesundheitswesen.Was muss denn geschehen, damit Leistungserbringer sich mehr für die Digitalisierung einsetzen?Es gibt zwei Möglichkeiten: Zuckerbrot oder Peitsche. Zuckerbrot bedeutet Anreize setzen, damit es sich für Leistungserbringer lohnt, ihre Praxis oder Institution zu digitalisieren. Ein Beispiel wäre, dass sie gewisse Tarife abrechnen könnten, wenn sie einen Prozess digital ausführen. Zuckerbrot kann auch bedeuten, dass man die Leistungserbringer bei der Digitalisierung unterstützt, zum Beispiel durch Kredite oder finanzielle Unterstützung. Und mit Peitsche meine ich, dass man die Leistungserbringer verpflichtetet oder diejenigen weniger subventioniert, die sich ungenügend an der Digitalisierung beteiligen. Nur mit der Peitsche zu arbeiten, ist sehr unbeliebt und auf Dauer nicht durchzusetzen. Deshalb brauchen wir in der Schweiz auch Anreize, damit die Leistungserbringer freiwillig mitmachen. Und Anreize, das bedeutet leider meistens Geld.

« Damit Wandel passiert, brauchen wir Druck. Und der ist im Schweizer Gesundheitssystem im Moment nicht vorhanden. »

Dann tun wir dies in der Schweiz also zu wenig, Anreize setzen und auch einmal «zur Peitsche» greifen. Woran liegt das?Der Hauptgrund ist wahrscheinlich, dass es uns in der Schweiz einfach zu gut geht. Damit Wandel passiert, brauchen wir Druck. Denn Veränderung tut ja weh: Man muss sich anpassen, es kommt Neues, Unbekanntes und eigentlich mag man das Altbewährte. Möchte man also ein ganzes System verändern, braucht man einen guten Grund. Und im Moment ist im Schweizer Gesundheitssystem einfach zu wenig Veränderungsdruck vorhanden. Wir haben ja ein gutes System, das mit sehr viel Geld aufrechterhalten wird. Und da wären wir wieder bei Thema «wollen»…Im Moment haben wir eine Blockaden-Situation – wie ein Uhrwerk, in dem die Räder sich zwischenzeitlich nicht drehen, da sie ineinander verkeilt sind. Die Kantone, der Bund, die Gemeinden, die Patienten, jeder schaut auf den Anderen und wartet, bis dieser etwas tut. Niemand macht Druck, niemand tut etwas. Also passiert auch nichts.Und was müsste passieren, damit sich das ändert?Das ist die ganz grosse Frage unserer Gesellschaft: Wie schafft man es, ein Gesundheitssystem zu verändern? Um aus der aktuellen Situation herauszukommen, braucht man Bewegung, ein Scharnier-Öl, etwas, das diese Blockade beendet. Aber leider gibt es keine einfache Lösung. Ich selber sehe die Bevölkerung als wichtigen Hebel. Könnte ich Millionen ins System reinpumpen, würde ich eine Marketingaktion starten und der Bevölkerung erklären, warum ein digitalisiertes Gesundheitswesen ein grundbesseres Gesundheitswesen wäre. Dann könnte ein Druck von unten entstehen.Es gibt ja durchaus Ärztinnen oder Ärzte, die ihren Teil zur Digitalisierung beitragen möchten. Wie tun sie das am besten?Ein starker Hebel bei den ambulanten Leistungserbringern ist der Austausch unter Fachleuten: Sprechen Sie darüber, wie ein elektronisches Hilfsmittel ihre Prozessabläufe effizienter gestaltet hat und schauen sie sich die Arbeitsweise von Kollegen an, die digitale Lösungen nutzen. Berichten Berufskollegen, was ihnen die Digitalisierung bringt, ist das sehr kraftvoll. Das Gesundheitswesen braucht mehr von diesen Leuchttürmen, die zeigen «Hey, da geht viel mehr als nur Briefe und Faxe verschicken». Und Angestellte in Institutionen wie Spitälern oder Heimen sollten innovative Ideen oder Inputs zur Optimierung von Prozessen auf jeden Fall kommunizieren.

« Ein starker Hebel bei den ambulanten Leistungserbringern ist der Austausch unter Fachleuten. »

Wir haben jetzt viel darüber geredet, wie die Digitalisierung vorangetrieben werden könnte. Doch was könnte ein digitalisiertes Gesundheitswesen bewirken? Welchen Mehrwert würde es Gesundheitsfachpersonen bringen? Ein typischer Assistenzarzt in einem Spital verbringt etwa 20 Prozent seiner Zeit im Kontakt mit den Patienten, bei einer Pflegekraft sind es vielleicht 30 Prozent. Das heisst, die Leistungserbringer verbringen einen grossen Teil ihres Tages mit Administration, Terminfindung, bürokratischen Aufgaben. Die Digitalisierung könnte das ändern: Sie könnte entlasten bei der ungeliebten Bürokratie – und die Leistungserbringer hätten mehr Zeit für ihre Kernaktivitäten, die Arbeit mit den Patienten. Und was bewirkt die Digitalisierung für den Patienten? Einerseits liesse sich durch die Digitalisierung wahrscheinlich der Anstieg der Gesundheitskosten verlangsamen. Andererseits könnte sie für die Patienten ein schöneres, einfacheres, bequemeres Gesundheitssystem schaffen: Wie wäre es zum Bespiel, wenn ein Patient nicht 20-mal nach seinen Vorerkrankungen gefragt würde? Und natürlich kann die Digitalisierung die Behandlungsqualität verbessern. Beispielsweise schafft es kein Arzt dieser Welt, die Wechselwirkungen zwischen allen bestehenden Medikamenten im Kopf zu behalten. Eigentlich ist es also ein Unding, dass wir noch kein zentrales eMedikations-System haben. Allein das sollte Grund genug sein, die Digitalisierung des Gesundheitssystems voranzutreiben.
Über den Digital Health ReportDer Digital Health Report des Winterthurer Instituts für Gesundheitsökonomie der ZHAW School of Management and Law basiert auf einer übergreifenden Auswertung vorhandener Studien und einer Befragung von rund 20 Expertinnen und Experten. Er wurde 2017 erstmals publiziert und ist seither 2019 und 2021 erschienen.Möchten Sie mehr über die Resultate erfahren?

Autor: Philipp Senn - Leiter Kommunikation

Sprache und Informationstechnik haben mich schon immer fasziniert – bei HIN kann ich beides verbinden. Als Leiter Kommunikation bei HIN und «nebenamtlicher» Referent für die HIN Academy möchte ich unseren Lesern vielschichtige Aspekte der digitalen Transformation vermitteln und ihr Bewusstsein für die damit zusammenhängenden Fragen der IT-Sicherheit schärfen.

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