
«Wenn wir auf alle warten, passiert nie etwas» – Regierungsrat BL Thomi Jourdan über Versorgungsplanung, Verantwortung und das E-Rezept Schweiz
Im Kanton Basel-Landschaft wird das E-Rezept Schweiz eingeführt. Als kleines Puzzleteil in einer Strategie, die Gesundheitsversorgung ganzheitlich denkt. Regierungsrat Thomi Jourdan setzt auf pragmatische Lösungen, gezielte Fehlanreiz-Korrekturen und auf Zusammenarbeit statt Zentralismus.
HIN: Herr Jourdan, wenn Sie dem Patienten «Gesundheitswesen» ein Rezept ausstellen könnten – welche Mittel würden Sie ihm verschreiben?
Thomi Jourdan: Ich würde ihm ein breitbandiges Anti-Fehlanreiz-Medikament verschreiben. Denn Fehlanreize ziehen sich durch das ganze System. Patientinnen und Patienten, Leistungserbringer, Versicherer, sogar die Politik: Alle Beteiligten agieren in einem Umfeld, das zu oft dazu einlädt, individuelle Optimierung über systemische Wirksamkeit zu stellen.
Das klingt ernüchtert. Ist das System unheilbar krank?
Keineswegs – ich beobachte einfach eine grosse Diskrepanz zwischen Ambition und Realität. Alle reden davon, das System besser machen zu wollen. Doch wenn es konkret wird, wirkt die Kraft der Selbstoptimierung: Patientinnen und Patienten haben wenig Anreiz, weniger Ressourcen zu verbrauchen, Spitälern bietet die Tarifstruktur derzeit keine Anreize, Leistungen ambulant zu erbringen und viele Systembedingungen wirken mengenausweitend und damit kostentreibend.
Wie erklärt man das einer Bevölkerung, die Gesundheitsversorgung als Selbstverständlichkeit empfindet?
Das ist eine Herausforderung – und unsere Aufgabe. So muss ich z.B. erklären, dass ein Spital auch deshalb Verlust machen kann, weil es die aus Patienten- und Gesundheitskostensicht gewünschten, aber aus Betriebskostensicht nachteiligen ambulanten Behandlungen forciert hat. Das ist schwierig vermittelbar, aber genau solche Zusammenhänge sind es, die uns antreiben, die Versorgung neu auszurichten: Die Bevölkerung braucht dezentrale, stationär-ersetzend ambulante, zeitlich gut verfügbare Versorgungsstrukturen, welche auch dazu beitragen, die teuren stationären Angebote zu entlasten.
«Digitalisierung muss sich in bestehende Abläufe einfügen»
Etwas zur Linderung beitragen soll auch das E-Rezept Schweiz. FMH und pharmaSuisse, die Verbände der Ärzte- und Apothekerschaft, haben es lanciert. Ohne politisches Mandat, ohne Abstimmung mit Bund oder Kantonen. Wie stehen Sie zu diesem Vorgehen?
Ich bin ein Fan von Föderalismus und von Innovation. Wenn immer zuerst auf allen Ebenen Konsens bestehen muss, wird nie etwas passieren. Entscheidend ist, ob digitale Lösungen fähig sind, das System insgesamt vorwärts zu bringen.
Das heisst?
Kein Leistungserbringer wird sein Patienteninformationssystem ohne Not wechseln. Digitale Lösungen müssen sich in bestehende Systeme und Abläufe einfügen, damit sie akzeptiert werden. Was es braucht, ist daher Offenheit und Interoperabilität zwischen bestehenden Systemen.
Wer steht aus Ihrer Sicht in der Verantwortung, dass die digitale Transformation im Gesundheitswesen koordiniert und effizient abläuft?
Das elektronische Patientendossier (EPD) hat eindrücklich gezeigt, wie komplex das Thema ist – trotz enormem Mitteleinsatz und grosser Ambitionen. Es gibt Fortschritte, aber der Weg ist steinig. Ich bin gespannt, ob es dem Bund gelingt, die nötige Struktur für einen zweiten Anlauf zu schaffen.
Und was ist mit den Kantonen?
Auch wir müssen Verantwortung übernehmen. Im Baselbiet haben wir die Ambition, Versorgung und Digitalisierung integral weiterzuentwickeln. Dabei geht es nicht nur um die Digitalisierung analoger Abläufe, sondern um den Aufbau bzw. die Stärkung einer integrierten Versorgung.
Von der Spitalplanung zur Versorgungsplanung
Das ist ein hoher Anspruch.
Aber er ist notwendig. Eine der grössten Schwachstellen im System sind Brüche im Behandlungsprozess: Patienten werden an die falsche Stelle überwiesen, weil auf einem Formular eine Auswahlmöglichkeit fehlt; Laborwerte werden doppelt erhoben, Untersuchungen nach einer Überweisung unnötigerweise wiederholt – ganz einfach, weil die Informationen nicht durchgängig und umfassend für alle Systembeteiligten verfügbar sind. Dies kostet Geld, Behandlungsqualität und Nerven. Darum: Wenn wir das E-Rezept, den eMediplan oder Datenstandards klug nutzen, sind das wichtige Beiträge, um Brüche zu entschärfen und die Versorgung effizienter zu machen.
Was unternehmen Sie konkret, um das Gesundheitssystem im Baselbiet effizienter zu machen?
Mit «Gesundheit BL 2030» haben wir ein Massnahmenpaket beschrieben, welches die Gesundheitsversorgung zu Gunsten der Bevölkerung «forciert ambulant, dezentral, vernetzt und stationär fokussiert» ausrichten soll. Das heisst, wir möchten wegkommen von der reinen Spitalplanung, hin zur Gestaltung eines innovativen Versorgungssystems. Das beinhaltet den Aufbau neuer Versorgungsstrukturen mit Gesundheitszentren, die der Bevölkerung eine wohnortsnahe, verstärkt ambulante Versorgung ermöglichen und die teuren stationären Strukturen entlasten. Zudem fördern wir innovative Konzepte wie Hospital at Home oder verfolgen die Idee eines ambulanten Zusatztarifs für stationäre Leistungserbringer im engen Austausch mit Versicherern.
Wie funktioniert das?
Nehmen wir das Beispiel eines chirurgischen Eingriffs: Wir haben viele Fälle, bei denen es für das Spital rentabler ist, einen Fall stationär zu behandeln – obwohl aus medizinischer Sicht ein ambulanter Eingriff möglich wäre. Die Überlegung ist demnach, mit einem ambulanten Zusatztarif die Differenz zwischen den stationären und ambulanten Tarifen zu reduzieren und damit den Anreiz zu Gunsten von ambulanten Behandlungen zu erhöhen. Der Patient kann früher nach Hause, die Rate der Infektionen mit «Spitalkeimen» wird verringert und die Kosten liegen insgesamt tiefer.
Was ist mit den Spitälern?
Die herkömmliche Sicht einer reinen Spitalplanung ist für mich ein Auslaufmodell. Eine Aufgabe, die nur die Vergabe von Aufträgen an stationäre Leistungserbringer im Fokus hat, entspricht nicht mehr den Anforderungen einer zukunftsorientierten, integrierten und vernetzen Versorgung, bei der telemedizinische, ambulante und stationäre Angebote zu Gunsten der Patientinnen und Patienten aufeinander abgestimmt werden. Die Kantone haben hier eine zentrale Aufgabe als Ermöglicher und Koordinator. Dafür braucht es Innovationsbereitschaft und den politischen Mut, diese Rolle auch zu übernehmen.
«Wir müssen den Gemeinsinn stärken»
Manche fordern eine stärkere Rolle des Bundes bei der Spitalplanung. Braucht es mehr Zentralisierung?
Ich bin dezidiert dagegen. Zentralisierung funktioniert vielleicht auf dem Papier, aber nicht in der Realität. Die Zukunft der Versorgung liegt nicht im reinen Planen und Bauen von Spitälern, sondern im Gestalten einer intelligenten regionalen und überregionalen Gesundheitsversorgung mit der Ambition, die stationär-ersetzende Ambulantisierung signifikant auszubauen. Der Föderalismus mag zuweilen kompliziert sein, aber er ist eben auch ein Labor für innovative Lösungen. Und genau diese Chance gilt es seitens der Kantone wahrzunehmen.
Aber wie verhindern wir, dass jeder sein eigenes Süppchen kocht?
Indem der Bund Richtung und Rahmen vorgibt, aber nicht jede Aufgabe zentral steuern will. Im Falle der Digitalisierung bedeutet dies «Standards setzen und Koordination». Darauf basierend ist Innovation möglich. Und ja, manchmal braucht es einfach auch den Mut, «es zu tun»: So wie Sie beim E-Rezept.
Herr Jourdan, schlagen wir zum Schluss den Bogen zurück zur Eingangsfrage: Wie ist aus Ihrer Sicht die Prognose des Patienten «Gesundheitswesen»?
Das System wird nie «fertig» optimiert sein. Aber vergessen wir nicht: wir haben grossartige Ärztinnen und Ärzte, Therapeuten und Pflegende, die ihre Arbeit zu Gunsten der Patientinnen und Patienten mit Fachwissen, Verantwortung und Herz machen. Ich möchte daran glauben, dass der Mensch nicht nur ein «Homo oeconomicus» ist, der nur an seinen eigenen Vorteil denkt. Und ja, gerade im Gesundheitswesen arbeiten viele Menschen, die etwas Gutes schaffen wollen. Diesen Gemeinsinn müssen wir stärken.

Thomi Jourdan ist seit 2023 Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft und leitet die Volkswirtschafts- und Gesundheitsdirektion. Der ausgebildete Ökonom (lic. rer. pol.) und Supervisor IAS ist seit 25 Jahren politisch aktiv – zuvor als Landrat, langjähriger Gemeinderat von Muttenz sowie Vorsteher des Departements Hochbau und Planung. Beruflich führte er ein KMU im Immobilienbereich und bekleidete Führungspositionen im Gesundheitswesen, unter anderem im Felix-Platter-Spital Basel und im Gesundheitsdepartement der Stadt Zürich.