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KI im Gesundheitswesen: Vom Black-Box-Modell zum verlässlichen Partner

Philipp Senn
Philipp Senn

Grosse Sprachmodelle wie ChatGPT zeigen, wie vielseitig KI sein kann. Sie formulieren Texte, analysieren Daten und strukturieren Informationen. Doch im komplexen, streng regulierten Gesundheitswesen stossen solche Generalisten schnell an ihre Grenzen. Attila Fekete, COO von HIN, erklärt, wo spezialisierte KI-Systeme im Vorteil sind und warum wir auch in der Schweiz KI brauchen, die medizinisch «denkt».

Dieser Beitrag ist am 22. September 2025 im "IT for Health" der Netzwoche erschienen.

Die Diskussion um Künstliche Intelligenz (KI) prägt zunehmend auch die Gesundheitsbranche. Während grosse Sprachmodelle wie ChatGPT beeindruckende Leistungen in der Texterstellung oder Datenstrukturierung zeigen, stellen sich im medizinischen Kontext andere Anforderungen. In der Harvard Business Review (HBR) haben Nigam und Glaser herausgearbeitet, dass generalistische KI-Modelle zwar bei breiten Aufgaben glänzen, im professionellen Einsatz aber schnell an ihre Grenzen stossen. Weil sie nicht wie Ärztinnen und Ärzte vorgehen, sondern statistische Muster abgleichen.¹

Die Autoren zeigen am Beispiel von Kostengutsprachen amerikanischer Krankenversicherungen, dass spezialisierte KI-Systeme den generalistischen Modellen überlegen sind. Diese Erfahrungen und weitere, die ich unten ausführe, lassen sich zwar nicht eins zu eins auf die hiesige Versorgungsrealität übertragen. Doch wir sind gut beraten, sie zur Kenntnis zu nehmen und unsere Schlüsse daraus zu ziehen. Denn sie liefern wertvolle Impulse für die Einführung und Weiterentwicklung vertrauenswürdiger KI-Lösungen in der Schweiz.

Wenn KI nicht nur erkennt, sondern versteht

In der medizinischen Diagnose oder bei der Beurteilung von Leistungsansprüchen reicht es nicht, wenn eine KI nur Muster erkennt. Sie muss medizinisch «denken» können: klinische Logik nachvollziehen, Evidenzstärken einschätzen und regulatorische Vorgaben wie SwissDRG, BAG-Vorgaben oder das KVG berücksichtigen. Das gilt insbesondere bei komplexen Entscheidungen, etwa bei Komorbiditäten, in der Palliativversorgung oder bei ethischen Fragen. McKendrick und Thurai weisen darauf hin, dass KI bei solchen Kontextentscheidungen regelmässig scheitert, weil ihr Empathie, Ethik und ein Gesamtverständnis fehlen.²

Eine hohe Trefferquote allein genügt daher nicht. Fachpersonen wollen nachvollziehen können, wie ein Ergebnis zustande kommt. Das System muss ausweisen können, welche Kriterien es verwendet hat, wie es Informationen gewichtet hat und welche Abwägungen eingeflossen sind. Black-Box-Modelle, die Ergebnisse ohne Begründung liefern, helfen im Alltag nicht weiter. In einem regulierten Umfeld wie dem Schweizer Gesundheitswesen ist Transparenz kein Nice-to-have, sondern Voraussetzung für Vertrauen, Akzeptanz und rechtliche Sicherheit.

Spezialwissen als Erfolgsfaktor

Die Zukunft medizinischer KI liegt nicht in grossen, allumfassenden Systemen, sondern in spezialisierten, transparenten Lösungen mit fundierter fachlicher Basis. Viot³ und Modi⁴ unterstreichen diesen Trend: Hyperspezialisierte Modelle sind effizienter, präziser und ressourcenschonender als übergrosse Generalisten. Genau diese Kriterien – Effizienz, Genauigkeit, Nachhaltigkeit – sind auch im Schweizer Gesundheitswesen entscheidend.

So lassen sich zwei Ziele erreichen: die Qualität und Effizienz der Versorgung verbessern und gleichzeitig das Vertrauen von Fachpersonen, Patientinnen und Patienten sichern. Denn Fehlentscheidungen können nicht nur ökonomische, sondern auch gesundheitliche Folgen haben.

Die KI «denkt», der Mensch lenkt

Die oben geteilten Erfahrungen und Beobachtungen sind Teil einer breiteren Diskussion, die über die Technik hinaus geht. KI kann zwar Daten aggregieren und statistische Wahrscheinlichkeiten berechnen, doch sind Entscheidungen nie rein rechnerisch. Reeves, Moldoveanu und Job betonen in einem weiteren HBR-Beitrag, dass menschliche Urteile immer auch Kontext, Ethik und Imagination einbeziehen, also Fähigkeiten, die Maschinen nicht ersetzen können.⁵ Für das Schweizer Gesundheitswesen bedeutet das: KI muss Fachlogik und regulatorische Rahmenbedingungen «verstehen», darf aber nicht an die Stelle menschlicher Verantwortung treten und autonom Entscheide fällen.

Auch Studien zur Organisationsentwicklung zeigen, dass Technologie allein nicht reicht. Fountaine, McCarthy und Saleh argumentieren, dass der Erfolg von KI vor allem an Kultur, Zusammenarbeit und einer klaren Einbettung in Arbeitsabläufe hängt.⁶  Das gilt auch im Schweizer Gesundheitswesen: Ohne enge Einbindung der Ärzteschaft und anderer Fachpersonen können spezialisierte Systeme nicht langfristig erfolgreich sein.

Der Vorsprung künftiger KI ergibt sich daher nicht aus Grösse oder Rechenleistung, sondern aus der Fähigkeit, lokales Fachwissen, medizinische Praxis und Innovation zu verbinden. Das setzt eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit Schweizer Expertinnen und Experten voraus. Nur so lassen sich Systeme laufend an neue Standards, Gesetze und regionale Besonderheiten anpassen – und nur so wird KI vom Trend zum echten Partner für eine bessere Versorgung.

Die Zukunft gehört Hybridmodellen

Brauchen wir also künftig für jeden Use Case ein spezifisches KI-System? Nicht zwingend! Ein vielversprechender Ansatz sind hybride Systeme, die Generalisten und Spezialisten verbinden. Generalistische KI-Modelle eignen sich gut für unterstützende Aufgaben: Sie können den Kundenservice verbessern, medizinische Dokumente zusammenfassen oder das Wissensmanagement erleichtern. Diese Systeme sind flexibel, vielseitig einsetzbar und erleichtern den Alltag von Mitarbeitenden in administrativen und kommunikativen Aufgaben, während für komplexe medizinische Aufgaben spezialisierte Modelle erforderlich sind.

Organisationen, die den Einsatz von KI planen, sollten sich daher die gleichen Fragen stellen, die auch von Nigam und Glaser diskutiert werden:

  • Legt das System seine Entscheidungswege offen?
  • Wurde es mit Fachpersonen entwickelt und wird es gemeinsam mit ihnen weiterentwickelt?
  • Ist es modular aufgebaut, sodass neue Einsatzbereiche wie Rehabilitation, Psychiatrie oder Langzeitpflege integriert werden können?

Die Antworten auf diese Fragen zeigen, ob KI bloss ein technisches Hilfsmittel bleibt oder sich zu einem verlässlichen Partner für Gesundheitsfachpersonen entwickelt.

Fazit: Nutzen maximieren durch Spezialisierung und Transparenz

KI kann die Gesundheitsversorgung verbessern, wenn sie spezialisiertes Wissen abbildet, transparente Entscheidungswege bietet und eng mit der Praxis entwickelt wird. Generalistische Modelle behalten ihren Wert in unterstützenden Bereichen. Doch dort, wo es um das Leben und die Gesundheit von Menschen geht, braucht es spezialisierte Systeme, die medizinisch «denken» – und Ärztinnen und Ärzten als Partner dienen, nicht als Black-Box.

¹ Nigam, Amber und John Glaser. "Should Your Business Use a Generalist or Specialized AI Model?" Harvard Business Review, 23. Juli 2025. https://hbr.org/2025/07/should-your-business-use-a-generalist-or-specialized-ai-model.

² McKendrick, Joe und Andy Thurai. "AI Isn’t Ready to Make Unsupervised Decisions" Harvard Business Review, 15. September 2022. https://hbr.org/2022/09/ai-isnt-ready-to-make-unsupervised-decisions.

³ Viot, Edlouard. "The Future Of AI Is Specialization" Forbes Technology Council, 30. Mai 2025, https://www.forbes.com/councils/forbestechcouncil/2025/05/30/the-future-of-ai-is-specialization/.

 Modi, Darshil. "The Rise of Specialized AI Models: Unlocking New Efficiencies for Business Growth" LinkedIn, 5. Mai 2025, https://www.linkedin.com/pulse/rise-specialized-ai-models-unlocking-new-efficiencies-darshil-modi-t2orf/.

 Reeves, Martin, Mihnea Moldoveanu und Adam Job. "The Irreplaceable Value of Human Decision-Making in the Age of AI" Harvard Business Review, 11. Dezember 2024. https://hbr.org/2024/12/the-irreplaceable-value-of-human-decision-making-in-the-age-of-ai.

 Fountaine, Tim, Brian McCarthy and Tamim Saleh. "Building the AI-Powered Organization." Harvard Business Review, Juliy-August 2019. https://hbr.org/2019/07/building-the-ai-powered-organization.

Attila Fekete

Attila Fekete

Mitglied der Geschäftsleitung und COO von HIN

Philipp Senn
Autor: Philipp Senn - Leiter Kommunikation

Sprache und Informationstechnik haben mich schon immer fasziniert – bei HIN kann ich beides verbinden. Als Leiter Kommunikation bei HIN und «nebenamtlicher» Referent für die HIN Academy möchte ich unseren Lesern vielschichtige Aspekte der digitalen Transformation vermitteln und ihr Bewusstsein für die damit zusammenhängenden Fragen der IT-Sicherheit schärfen.

Expertise
Sprache und Informationstechnik haben mich schon immer fasziniert – bei HIN kann ich beides verbinden. Als Kommunikationsspezialist habe ich in der IT, im Verbandswesen und in der öffentlichen Verwaltung Erfahrung gesammelt. Als Leiter Kommunikation bei HIN und «nebenamtlicher» Referent für die HIN Academy möchte ich unseren Lesern vielschichtige Aspekte der digitalen Transformation vermitteln und ihr Bewusstsein für die damit zusammenhängenden Fragen der IT-Sicherheit schärfen.

Redaktionelle Inhalte
Im HIN Blog informiere ich über aktuelle Entwicklungen bei HIN, stelle Persönlichkeiten und Meinungen zur Digitalisierung im Gesundheitswesen vor und berichte über E-Health und Datensicherheit. Ich führe Interviews mit Exponenten der Branche oder recherchiere Hintergrundinformationen – und gebe Ihnen so einen Einblick hinter die Kulissen.

Ganz persönlich
(Fremd-)Sprachen und Technik stehen bei mir auch privat hoch im Kurs, sei es bei Reisen in ferne und weniger ferne Gefilde oder kleinen Bastelprojekten in Haus und Garten. Meine Freizeit verbringe ich am liebsten mit meiner Familie. Ich lache gern und bin für ein spannendes Gespräch unter Freunden, Kollegen oder Bekannten immer zu haben.

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