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Vom Mailgateway zum Data Mesh: Wie HIN die sichere Kommunikation neu denkt

Philipp Senn
Philipp Senn

Verschlüsselte E-Mails waren für fast drei Jahrzehnte das Werkzeug der Wahl, um sensible Daten digital, sicher und schnell zu übermitteln. Diese Epoche geht zu Ende. Heute entsteht bei HIN ein dezentraler Infrastruktur-Layer, der ein neues Zeitalter der Datenkommunikation und Vernetzung im Schweizer Gesundheitswesen einläutet. Erfahren Sie mehr im Interview mit Georg Greve, CEO und Head of Product Development der Vereign AG, der Entwicklerin der Lösung, und Aroel Vanden Broele, Product Owner und Produktmanager bei HIN.

Warum wird HIN Mail gerade jetzt erneuert?

Aroel: Weil das Gesundheitswesen von heute und morgen anders arbeitet als noch vor zehn Jahren. Daten sind die Grundlage von Versorgung, Abrechnung und Forschung. Immer mehr Daten von immer mehr Geräten müssen immer schneller übermittelt werden. Wir wollen eine Basis schaffen, die den Alltag in den Praxen und Spitälern einfacher macht. Die den Datenschutz wirklich hochhält und auch in Zeiten erhöhter Beanspruchung belastbar bleibt.

Georg: Die Absicherung der digitalen Identität unter Kontrolle der Nutzer gehörte für die längste Zeit des Internets zu den brennenden, ungelösten Problemen. Die Entstehung von Self-Sovereign Identity (SSI) als Konzept hat vor knapp zehn Jahren eine Lösung für dieses Problem versprochen und sich aufgrund von grossem Interesse rasend schnell weiterentwickelt. Durch verschiedene Projekte, auch im Bereich der Gesundheitsdatenräume der Europäischen Gaia-X Initiative, konnte die Praxistauglichkeit und Sicherheit von SSI unter Beweis gestellt werden. Nun sind nicht nur die technologischen Bausteine reif für die Umsetzung, sondern es herrscht auch eine gewisse Aufbruchstimmung bei den Akteuren in der Schweiz. Das Bewusstsein ist vorhanden, dass wir unser Gesundheitssystem anders aufstellen müssen, wenn wir die kommenden Herausforderungen bewältigen wollen.

Warum baut ihr nicht einfach das bestehende HIN Mail System weiter aus?

Aroel: Mit unserer bestehenden Infrastruktur können statische Informationen, zum Beispiel PDF-Dokumente, sicher per E-Mail zugestellt werden – so weit, so gut. Aber das genügt nicht den Anforderungen an ein digital vernetztes Gesundheitssystem, in dem permanent riesige Mengen strukturierter Daten zwischen verschiedensten Endpunkten – Personen, Organisationen, Geräten – hin und her fliessen müssen. Und das auch noch hochsicher, hochverfügbar, hochvertraulich. Darum machen wir den Schritt von einem «Mail-Produkt» zu einer Kommunikations-Infrastruktur, die zwar weiterhin auch E-Mails übermitteln kann, aber künftig noch viel mehr ermöglicht.

Georg: Architekturen lassen sich nicht endlos erweitern. Irgendwann muss ein Paradigmenwechsel vollzogen werden. Von den Öllampen zur Elektrizität, von den Pferdefuhrwerken zur Eisenbahn– diese Art von Änderung erfordert eine andere Art von Infrastruktur: Kabel, Schienen, oder eben dezentrale Netzwerke von digitalen Knotenpunkten, die Prinzipien wie Dezentralität, Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und Privatsphäre tief in ihrer technischen Architektur verankert haben. Nach der Umstellung des HIN Mail Systems auf eine neue, dezentrale Anwendung mit einer bisher nie dagewesenen Sicherheit ist die Umstellung auf eine neue Infrastruktur für dezentrale Identitätsverwaltung und Datenmanagement der nächste logische Schritt auf dem Weg der Transformation.

Wie muss ich mir dieses neue System vorstellen?

Aroel: Stell dir HIN nicht mehr als eine elektronische Post vor, die alle E-Mails von den Absendern einsammelt und sie dann an die einzelnen Adressaten ausliefert, sondern als ein echtes «Health Info Net», das aus vielen dezentralen Knoten besteht – wir nennen sie Smart Data Nodes. Diese Nodes sprechen direkt miteinander – «peer-to-peer» – und verschlüsseln Ende-zu-Ende. Es gibt kein zentrales Verteilzentrum mehr, das alle E-Mails verarbeitet. Das erhöht die Ausfallsicherheit und macht das System weniger verwundbar für bestimmte Arten von Cyberangriffen.

Georg: Dieses Netz von Knoten ist ein sogenanntes «Data Mesh». E-Mail ist darin eine Art von Daten, die transportiert werden, und macht erst einmal den Anfang. Der gleiche Unterbau kann dann ebenso gut strukturierte Daten transportieren, etwa Messwerte, Befunde oder Statusinformationen zwischen Systemen. Wir ersetzen also nicht einfach ein bestehendes Mailgateway durch ein neues, sondern schaffen ein Schienennetz, über das künftig verschiedene «Daten-Züge» fahren können.

Georg Greve

Georg Greve ist CEO und Head of Product Development der Vereign AG, der Entwicklerin der neuen, auf dem Prinzip der Self-Sovereign Identity (SSI) basierenden Kommunikationslösung von HIN. Der Mitgründer und Verwaltungsratspräsident von Vereign verfügt über mehr als dreissig Jahre Erfahrung als Technologieexperte und verantwortet die technologische, produktseitige und gesellschaftliche Vision des Unternehmens. Georg Greve engagiert sich seit Mitte der 1990er Jahre für Softwarefreiheit – als Entwickler, Autor, Speaker, Berater für Unternehmen und internationale Organisationen sowie als Gründungspräsident der Free Software Foundation Europe (FSFE). Für seine herausragenden Beiträge zu Offener Software und Offenen Standards wurde er bereits 2009 vom Deutschen Bundespräsidenten mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.

Was bedeutet die Umstellung für die Anwender?

Aroel: Für die Gesundheitsfachpersonen und Organisationen im HIN Vertrauensraum wird es sich ganz vertraut anfühlen: Es kommt an, was ankommen soll – nur eben auf eine modernere, robustere Art. E-Mail bleibt vorerst das häufigste Szenario. Der Unterschied: Die neue Infrastruktur kann E-Mail und kann gleichzeitig mehr. Das ist wichtig, weil wir im Gesundheitswesen eine hohe Komplexität und unterschiedliche Geschwindigkeiten der Transformation haben. Die Spitäler und Praxen werden ja nicht von heute auf morgen alle Prozesse umstellen. Wir sorgen einfach dafür, dass Bestehendes zuverlässig weiterläuft und wir bereit sind für neue Anwendungsfälle.

Was gewinnen die Mitglieder der HIN Community konkret?

Aroel: Drei Dinge. Erstens mehr Sicherheit und Privacy durch Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und dezentrale Architektur. Zweitens höhere Verfügbarkeit und Resilienz: Fällt ein Knoten aus, bleibt das Netz trotzdem funktionsfähig. Drittens weniger Reibung: Grosse Anhänge, die früher im Postausgang hängen blieben, oder strukturierte Datenflüsse lassen sich sauber transportieren. Unser Ziel ist, dass Organisationen weniger Ausnahmen managen müssen, zum Beispiel ein zusätzliches Tool für grosse Dateien.

Aroel Vanden Broele

Aroel Vanden Broele arbeitet als Product Owner und Produktmanager bei HIN. Er verantwortet im Value Stream «Kommunikation» die Einführung der neuen Kommunikationstechnologien hinter den Services HIN Mail und HIN Talk.

Schön und gut, aber hat diese neuartige Technologie denn ihre Feuerprobe schon bestanden?

Georg: Im Lauf von 2025 haben wir HIN Mail Global, die Lösung für verschlüsselte Kommunikation mit Nichtmitgliedern – zum Beispiel mit Patientinnen und Patienten – erfolgreich abgelöst. Dort haben sich wichtige Komponenten der neuen Infrastruktur bereits bestens bewährt. Künftig erweitern wir diese Architektur auch für den Datenaustausch innerhalb der HIN Community.

Wie sieht der Übergang aus?

Aroel: 2026 ersetzen wir die heutigen Mailgateways schrittweise. Natürlich ist es uns wichtig, dass HIN Mail währenddessen ohne Unterbrüche zur Verfügung steht. Wir starten Anfang Jahr mit einer Pilotphase und werden das neue System um die Jahresmitte breit ausrollen. Die Umsetzung stimmen wir mit jeder Organisation individuell ab. Die HIN Repräsentanten begleiten den Prozess eng, und bei Bedarf stehen technische Ressourcen von HIN bereit. Da es kein 1:1-Ersatz des Mailgateways ist, sondern wir auf eine neue Architektur wechseln, brauchen wir für eine reibungslose Umsetzung die aktive Mitwirkung der Kunden. Mitglieder mit HIN Domäne (E-Mail-Endung auf @hin.ch oder @verband-hin.ch) laufen auf der HIN eigenen Infrastruktur und werden von der Umstellung nichts mitbekommen.

Und was kommt danach?

Georg: Danach beginnt der spannende Teil. Wenn der neue Infrastruktur-Layer steht, können wir strukturierte Datenflüsse ausrollen, Systeme intelligent vernetzen, Use Cases wie Monitoring oder Care at Home unterstützen. Ich habe vorher schon das Bild des Schienennetzes gebraucht, das wir gerade bauen. Welche Züge in Zukunft darauf fahren, werden wir zusammen mit Leistungserbringern, Industriepartnern und Behörden herausfinden. Heute ist es E-Mail. Morgen sind es vielleicht Datenprozesse, die wir heute erst skizzieren können. Gemeinsam mit HIN gestalten wir diesen Prozess partizipativ über unser Health Innovation Centre, zu dem ausdrücklich alle interessierten Partner aus dem Gesundheitssektor eingeladen sind, um so die nächsten Schritte am Bedarf des Schweizer Gesundheitswesens zu orientieren.

Aroel: Für unsere Kunden und Mitglieder heisst das, es wird keinen «Big Bang» geben, sondern einen starken ersten Schritt mit unmittelbarem Nutzen, der die Tür für das nächste Kapitel aufstösst. Sie gewinnen sofort an Sicherheit und Stabilität, und wir schaffen gemeinsam die Grundlage für eine digitale Vernetzung und Zusammenarbeit, die über E-Mail-Verschlüsselung hinausgeht.

Was sollten Leserinnen und Leser des HIN Blogs aus diesem Interview mitnehmen?

Aroel: Wir verabschieden uns von einer Architektur, die viel geleistet hat, aber zunehmend an Grenzen stösst. Wir gehen bewusst zu dezentral, intelligent, zukunftsorientiert. Und wir begleiten unsere Mitglieder aktiv durch die Umstellung.

Georg: Das neue «Health Info Net» entspricht der Vision, mit der HIN gegründet wurde: eine moderne, einfach zu nutzende, und sichere Infrastruktur, die den Ansprüchen des zukünftigen Gesundheitswesens entspricht. Dabei betreiben wir Evolution, und nicht nur Revolution. E-Mail als «Legacy-Technologie» funktioniert natürlich weiterhin, nur besser. Aber die neue Infrastruktur unterstützt beispielsweise auch die zukünftige e-ID der Schweiz. Wer bisher das Mailgateway eingesetzt hat und gerne die e-ID in eigene Prozesse einbinden möchte, muss also dafür nichts tun: Diese Fähigkeit wird im kommenden Jahr mit den neuen Nodes ausgerollt, passend zu den Plänen zur Einführung der neuen Vertrauensinfrastruktur des Bundes. HIN unterstützt ihre Mitglieder gerne bei Fragen dazu, wie diese neuen Fähigkeiten genutzt werden können.

Philipp Senn
Autor: Philipp Senn - Leiter Kommunikation

Sprache und Informationstechnik haben mich schon immer fasziniert – bei HIN kann ich beides verbinden. Als Leiter Kommunikation bei HIN und «nebenamtlicher» Referent für die HIN Academy möchte ich unseren Lesern vielschichtige Aspekte der digitalen Transformation vermitteln und ihr Bewusstsein für die damit zusammenhängenden Fragen der IT-Sicherheit schärfen.

Expertise
Sprache und Informationstechnik haben mich schon immer fasziniert – bei HIN kann ich beides verbinden. Als Kommunikationsspezialist habe ich in der IT, im Verbandswesen und in der öffentlichen Verwaltung Erfahrung gesammelt. Als Leiter Kommunikation bei HIN und «nebenamtlicher» Referent für die HIN Academy möchte ich unseren Lesern vielschichtige Aspekte der digitalen Transformation vermitteln und ihr Bewusstsein für die damit zusammenhängenden Fragen der IT-Sicherheit schärfen.

Redaktionelle Inhalte
Im HIN Blog informiere ich über aktuelle Entwicklungen bei HIN, stelle Persönlichkeiten und Meinungen zur Digitalisierung im Gesundheitswesen vor und berichte über E-Health und Datensicherheit. Ich führe Interviews mit Exponenten der Branche oder recherchiere Hintergrundinformationen – und gebe Ihnen so einen Einblick hinter die Kulissen.

Ganz persönlich
(Fremd-)Sprachen und Technik stehen bei mir auch privat hoch im Kurs, sei es bei Reisen in ferne und weniger ferne Gefilde oder kleinen Bastelprojekten in Haus und Garten. Meine Freizeit verbringe ich am liebsten mit meiner Familie. Ich lache gern und bin für ein spannendes Gespräch unter Freunden, Kollegen oder Bekannten immer zu haben.

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